Pavel Haas: Meine Sehnsucht hält mich wach (1/3)

Pavel Haas hinterlässt uns mit der Suita op. 17 eines der rätselhaftesten Werke der Oboenliteratur, das immer mehr Fragen aufwirft, je mehr beantwortet werden. Was uns bleibt, ist nicht mehr als ein Fragment – doch allein die Art und Weise, wie Haas‘ die Suita in seinem letzten überlieferten Werk erneut aufgreift, beweist, welche wichtige Rolle sie für ihn gespielt haben muss.

 

Der 29. September 1938: Das Münchner Abkommen, welches die Eingliederung des Sudetenlandes in das Dritte Reich forderte, versetzte die Tschechoslowakei unter Schock. Über die Köpfe der Bevölkerung des kleinen, oftmals marginalisierten Binnenstaates hinweg beschlossen die Oberhäupter der führenden europäischen Mächte, Nazi-Deutschland, Italien, Frankreich und Großbritannien, die sofortige Räumung des Gebietes binnen 10 Tagen. Daladier und Chamberlain erhofften sich durch diesen Schachzug Hitler beschwichtigen und somit den Ausbruch eines weiteren desaströsen Kriegs gerade noch abwenden zu können. Durch ihre Appeasement-Politik unterzeichneten Großbritannien und Frankreich jedoch de facto ebenso das Ende der multinationalen Tschechoslowakei. Eine Flüchtlingswelle erschütterte das Landesinnere, das öffentliche Kulturleben wurde vorübergehend zum Stillstand gebracht. Als freischaffender Komponist hatte sich Pavel Haas zu diesem Zeitpunkt bereits durch zahlreiche Auftragskompositionen für Rundfunk, Film sowie das Brünner Theater einen entsprechenden Namen gemacht. Schließlich erlangte er selbst die Position des Nachfolgers seines ehemaligen Lehrers, dem renommierten Leos Janacek, als Vorsitzender des Klubs Mährischer Komponisten.

 

Haas musst sich der bedrohlichen Lage seines Landes durchaus bewusst gewesen sein. Seine Jüdische Identität könnte aufgrund der neuen politischen Situation seiner Karriere ein jähes Ende setzen – ein Verdacht, der sich nicht allzu spät bewahrheiten sollte: Der 28. Januar 1939 war der letzte Tag seines Lebens, an dem sein Werk im öffentlichen tschechoslowakischen Rundfunk ausgestrahlt werden sollte. Er suchte bereits nach Wegen, das Land zu verlassen, bewarb sich erfolglos auf eine Professur am neuen Konservatorium in Teheran. In seiner Skizze zu Tryzna, der Trauermusik für seine verstorbene Mutter, notiert er: „Fortsetzung 24.2.1939 in einer schweren, sehr schweren Zeit“.

 

 

Pavel Haas mit seiner Frau Soňa und Tochter Olga. Quelle: wrti.org

 

Im März überschlagen sich die Ereignisse. Haas und seine Frau rechneten mit einer Besetzung ihrer Heimatstadt Brünn und hatten sich entschieden, zusammen mit ihrer einjährigen Tochter in Prag Schutz zu suchen. In der Zwischenzeit hatte Adolf Hitler den Befehl zur „Zerschlagung der Rest-Tschechei“ gegeben und die Besetzung des restlichen Staatsgebietes angeordnet; die Besatzungsarmee traf am 15. März in Prag ein, dem selben Tag der Ankunft des Komponisten mit seiner Familie. Dies zwang sie schließlich doch schon nach einer Nacht zur Rückkehr nach Brünn, wo sie vergeblich versuchten, ein Visum für die Sowjetunion, Großbritannien oder die USA zu erhalten. Die große Nachfrage und jahrelange Wartezeiten machten dies unmöglich.

 

Die kommenden Monate waren von steter Unsicherheit geprägt; Hugo Haas, dem Bruder des Komponisten, war es gelungen zusammen mit seiner Frau nach Paris zu fliehen. Ihren erst wenige Wochen alten Sohn mussten sie in Prag zurücklassen, weshalb ihn Pavel schließlich nach Brünn zu sich holte. In dieser Zeit, am 18. Juli 1939, begann er mit der Komposition der Suita. Schon auf den ersten Blick auf das handschriftliche Manuskript wird deutlich, dass es sich ursprünglich nicht um ein Werk für Oboe, sondern vielmehr für Gesang und Klavier gehandelt haben musste (→ siehe Pavel Haas: Die Handschrift (2/3)).

 

Leider ist uns der Text dieser Lieder nicht überliefert. Was hat den Komponisten in diesen Monaten so sehr beschäftigt, dass er sich entschied, es zu vertonen? Nur an wenigen Stellen stehen kurze Textfragmente, die aber ohne Kontext keinen zusammenhängenden Inhalt erschließen lassen. Allerdings gibt es einige musikalische Symbole und auch Notizen des Komponisten, die unmissverständlich sind: So zitiert Haas zwei zeitlich weit zurückgehende Choralmelodien, die beide eine tiefe Symbolkraft besitzen und ein Wahrzeichen tschechischer Identität bilden. Beinahe die gesamte Komposition ist vom St.-Wenzel-Choral (Svatováclavský chorál) durchdrungen, einem mittelalterlichen Hymnus, dessen Wurzeln bis in das 12. Jahrhundert zurückreichen. Dieses geistliche Lied, eine einfache Fürbitte an den heiligen Wenzel, Schutzpatron Böhmens, entwickelte sich zum Symbol der tschechischen Staatlichkeit und des Protestes gegen Fremdherrschaft; schließlich wurde es sogar in den Anfängen des tschechoslowakischen Staates 1918 als Nationalhymne diskutiert. An prominenter Stelle im zweiten Satz verwendet Haas darüber hinaus das bedeutendste Kampflied der Hussiten „Die ihr Gottes Streiter seid“ (Ktož jsú boží bojovníci), ein unmissverständliches Symbol für nationalen Freiheitskampf und militanten Widerstand.

 

 

St.-Wenzel-Choral in Quadratnotation (untere Hälfte der Buchseite). Quelle: radio.cz

 

Unterschiedliche Abschnitte des St.-Wenzel-Chorals verwendet Haas an unzähligen Schlüsselstellen, im ersten Satz erst versteckt, zum Beispiel bereits in den ersten vier Noten der Oboenstimme oder auch in den letzten Takten des Klaviernachspiels. Im zweiten Satz wird es schon konkreter: Hier bildet ein deutlich längerer Abschnitt das motivische Material des lyrischen Mittelteils.

 

In die Zeit der Komposition dieses Satzes fallen auch bedeutende historische Ereignisse, die eindeutige Spuren in der Partitur hinterlassen haben. Einerseits begann sich die Unterdrückung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung direkt auf das Leben der Familie auszuwirken, als dieser die Existenzgrundlage, die Genehmigung der Arztpraxis von Haas‘ Frau Soňa, entzogen wurde. Auch Pavel hatte schließlich kaum noch die Möglichkeit, privat zu unterrichten, öffentliche Aufführungen seiner Werke waren nicht realisierbar. „Heute müssen wir unser Radio abgeben, (für immer) 29.9.39“ notiert Haas in der Partitur, ein Zeichen des totalitären Versuchs in das private Leben der Bevölkerung einzudringen.

Schließlich besiegelte der deutsche Angriff auf Polen den Anbeginn des zweiten Weltkrieges. Hitlers Blitzkrieg fand bereits Anfang Oktober 1939 mit dem Fall Warschaus sein überraschendes Ende. Zur Feier des deutschen Sieges verordneten die deutschen Besatzer in Brünn das Läuten der Stadtglocken: „4.10.39, heute läuten sie den Sieg über Polen“ notiert Haas ernüchternd in seiner Partitur.

 

Die Kriegswirren, das Glockengeläut und Haas persönliches Schicksal werden dem Hörer der Suita musikalisch unmittelbar vermittelt. Plötzlich, ganz wie aus dem Nichts, ertönt das Fragment des St.-Wenzel-Chorals, welches sich nach und nach zu einem mitreißenden Sog entwickelt, bis, völlig unerwartet, das Hussitenlied aus dem Geschehen herausbricht. Haas verwendet hier die gleiche Fassung wie schon Smetana in seinem Zyklus Má vlast (mein Vaterland), vielleicht als Unterstützung der kämpfenden Polen, oder als Aufforderung zum Widerstand im eigenen Land? Doch so überraschend wie das Motiv erschien, versinkt die Musik wieder im Chaos. Diesem wirren, unsteten Gebilde setzt Pavel Haas nun ein eindeutiges Symbol entgegen: Der letzte Satz beginnt mit dem vollständigen Zitat des St.-Wenzel-Chorals. Kein einziger Takt des Satzes ist nun nicht mehr vom Choral abgeleitet, und schließlich führt Haas ihn, gleich einem innigen Gebet, zu apotheotischer Kraft.

 

 

Pavel Haas‘ Suite op. 17 und der St.-Wenzel-Choral

 

Die Suita kann somit als Symbol für Freiheit, auch für Hoffnung auf Schutz seines Landes gedeutet werden. Vielleicht erklärt das auch, warum kein Text überliefert ist: Hat Haas die Worte aufgrund eines womöglich aufrührerischen Inhalts nicht in der Partitur notiert, um die Botschaft vor der deutsche Besatzung zu verbergen? Vielleicht hat letztlich dieser Umstand dazu geführt, dass die Musik ihre heutige Form für Oboe und Klavier gefunden hat. Schließlich greift Haas Jahre später in seinem letzten überlieferten Werk, wenige Monate vor seinem Tod, auf die Suita zurück und überlässt uns damit noch einen letzten Baustein zur Deutung seines Werkes (→ siehe Pavel Haas: Lieder aus Theresienstadt (3/3)).

 

 

Quellen / weiterführende Literatur

Lubdomír Peduzzi. Pavel Haas. Leben und Werk des Komponisten. Hamburg: von Böckel Verlag 1996

Klaus Döge. Pavel Haas. in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Zweite, neubearbeitete Ausgabe, hrsg. von Ludwig Finscher, Kassel u. a. 1999