Das Manuskript der Suita ist ein einzigartiges zeitgeschichtliches Dokument, das für ein Gesamtverständnis des Werkes unabdingbar ist und liefert entscheidende Hinweise zur Geschichte, Konzeption und Interpretation.
Es war nicht leicht, das Manuskript der Suita ausfindig zu machen, doch schließlich wurde ich im Mährischen Landesmuseum Brno (Moravské zemské muzeum) fündig. Als ich begann, mich mit der Suita zu beschäftigen, machten mich bereits einige Ungereimtheiten in der Tempo Praha/Bossey&Hawkes – Ausgabe des Haas-Biografen Lubomír Peduzzi stutzig, und wie ich im Folgenden erklären möchte, beantwortete sich so manche Frage mit dem Studium dieser Handschrift. Leider handelt es sich dabei nicht um eine Fassung aus der Hand von Pavel Haas, sondern um eine Kopie, die František Suchý, seinerzeit Professor für Oboe und Musiktheorie an der Janáček-Akademie in Brünn, in Abschrift vom Original angefertigt hat.
Eine Partitur aus der Hand des Komponisten ist im Moment wohl unauffindbar, aber wartet hoffentlich innerhalb einer Privatsammlung auf ihre Entdeckung…

Beim Betrachten des Manuskripts fällt sofort die Sorgfalt ins Auge, mit der Suchý bei der Übertragung vorgegangen ist. Akribisch notiert er kleinste Details des Originals, scheint sich an alle ungewöhnlichen Balkungen und Bezeichnungen zu halten, überträgt auch kurze Textnotizen des Komponisten. Alles in allem scheint hier ein detailgetreues Abbild des ursprünglichen Textes vor uns zu liegen. Eine gewisse Vorsicht ist dennoch gefordert, da das Manuskript in einer Zeit entstand, welche lange vor der Etablierung des heutigen Standards eines Urtextes liegt. Suchý war auch Musiktheoretiker und Komponist und schien vielleicht deshalb großes Augenmerk darauf zu legen, die Intentionen des Komponisten in der Abschrift festzuhalten. Besonders berührend sind zwei Stellen, an denen Haas persönliche Ereignisse in der Partitur festhält: Unter Takt 90 (1 nach 16) des zweiten Satzes notiert er „heute müssen wir das Radio abgeben (für immer) 29. 9. 39“ und am Schluss des Satzes „beendet 4. 10. 39. Heute läuten sie den Sieg über Polen“ .
Auf den ersten Blick wird deutlich, dass es sich hier nicht um eine herkömmliche Oboenstimme handelt, sondern dass diese Musik ursprünglich für Gesang und Klavier, eventuell als Liedzyklus, komponiert wurde: Durch das gesamte Stück sind fast alle Achtel- und Sechzehntelgruppen wie in einer Gesangsstimme mit getrennten Balken notiert. Auch der ursprüngliche Tonumfang von c1 bis b2 (in der TempoPraha/B&H-Ausgabe wurden manche Abschnitte oktaviert) legt eine Konzeption für Sopran oder Tenor nahe – und schöpft den der Oboe bei weitem nicht aus.

Dies ist wohl der Grund, weshalb Peduzzi und Suchý bei der Erstausgabe massive Eingriffe in den Text vorgenommen haben: Sie wollten eine spielbare Fassung für Oboe und Klavier herausbringen, um das Stück so einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Man darf schließlich nicht vergessen, dass die Suita vor dieser Edition fast gänzlich unbekannt war, und ich so den Autoren zu tiefster Dankbarkeit für ihre Arbeit verpflichtet bin. Allerdings folge ich der Auffassung, dass die Änderungen zum Teil so einschneidend sind, dass die Intentionen des Komponisten oft nicht mehr eindeutig nachvollziehbar sind oder sogar verfälscht wurden. Jede Abweichung hier aufzulisten würde bei weitem den Rahmen sprengen – unzählige Details im Text, wie Dynamik, Tempi, Oktavlagen etc. stimmen nicht mit dem Manuskript überein, dies geht sogar bis zu weggelassenen Tempoangaben und Fermaten, fast sämtliche Artikulationen der Oboenstimme sind vom Herausgeber. Die beiden gravierendsten Unterschiede sind ein „poco a poco cresc. e accell“ in Takt 62 (zwei vor 23) des dritten Satzes bis zum „♩ = ♪ di Tempo I“ in Takt 65 (23), also quasi doppio Tempo bis zum Schluss des Satzes, die vollkommen in der Ausgabe fehlen, und die Oboenstimme von Takt 81 bis zum Schluss, die vom Herausgeber hinzugefügt wurde. In beiden Fällen scheint mir das Manuskript schlüssiger: Erst im doppio Tempo wird erst der große Zusammenhang des Schlussteils verständlich, Takt 71 (24) entspricht so auch analog dem Beginn des Satzes. Auch ein reines Klaviernachspiel ist deutlich typischer für einen Liedzyklus. So ergeben sich oft gänzlich andere Phrasen und Spannungsverläufe, die für meinen musikalischen Instinkt weitaus schlüssiger erscheinen – aber jeden erst einmal überraschen werden, der die bekannte Ausgabe im Ohr hat. Eine kritische Neuausgabe des Werkes würde sicherlich einen neuen, tieferen Einblick in die Intention des Komponisten ermöglichen.