Pavel Haas: Lieder aus Theresienstadt (3/3)

Theresienstadt 1944: Hier schreibt Pavel Haas die Vier Lieder nach Worten chinesischer Poesie, einen unwirklichen Liederzyklus über die unerfüllte Sehnsucht nach Heimkehr – und bezieht sich direkt auf die Suita op. 17 . Es bleibt das letzte überlieferte Werk des Komponisten. Führt er hier unter noch bedrohlicheren Umständen Ideen zu einem Ende, die fünf Jahre zuvor unvollendet geblieben sind?

 
Meine Hände, meine Hände,
sie sind zu leer, all das zu vorzutragen.
Oh Schlaf, gib mir den Traum,
gib mir den Traum von der Rückkehr nach Hause.

 
Schlaf, den Traum gibst du mir nicht:
meine Sehnsucht hält mich wach.
 
Pavel Haas: Vier Lieder nach Worten chinesischer Poesie (1944), Nr. 3 (Ausschnitt)

 

Am 2. Dezember 1941, gute zwei Jahre nach dem Abschluss der Suita, wurde Pavel Haas in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Ein normales Leben vor der Deportation war ebenso wenig möglich gewesen wie danach. Im April 1940 hatten sich seine Frau Soňa und er für eine Trennung entschieden, damit sie als Nicht-Jüdin wieder ihrem Beruf als Ärztin nachgehen konnte und so ihre Existenz und die der gemeinsamen Tochter gesichert war. Pavel hatte schon längst seine Arbeit verloren, da das jüdische Gymnasium, an dem er unterrichtete, geschlossen worden war. Zusammen mit seinem Vater war er gezwungen worden, ein Zimmer in einer Sammelwohnung für jüdische Haushalte zu beziehen. Kontakte mit der restlichen Bevölkerung wurden immer mehr erschwert, und auch Soňa konnte er nur noch sporadisch im Geheimen treffen.

 

Im November 1941 hatten die deutschen Besatzer der Tschechoslowakei in der Garnisonsstadt Terezín (deutsch Theresienstadt) ein Transitlager vor allem für die jüdische Bevölkerung des Landes auf dem Weg in die großen Vernichtungslager eingerichtet. Haas gehörte zu den ersten Lagerbewohnern und war zunächst mit etwa siebzig anderen Häftlingen in einem Kasernenraum untergebracht. Die arbeitsfähigen unter ihnen mussten schwere, grobe Arbeiten ausführen, um das Lager auf die bevorstehenden Massen an Bewohnern vorzubereiten. Diese erste Zeit in Theresienstadt erwies sich für Haas als katastrophal, da er wie viele andere unter der strapazierenden körperlichen Arbeit und der schlechten Ernährung zu leiden hatte.

 

Bis 1942 wurde die Zivilbevölkerung von Terezín komplett ausgesiedelt, wodurch aus einer Stadt mit 3500 Einwohnern ein Lager mit weit über 40 000 Gefangenen wurde. Im Frühjahr diesen Jahres kam auch Pavel Haas‘ 71-jähriger Vater nach Theresienstadt. Pavel war es mittlerweile gelungen, einen Verwaltungsposten in der Poliklinik zu erhalten, der es ihm auch erlaubte, sich wieder der Komposition zu widmen. Um Ruhe und Ordnung im Lager aufrechtzuerhalten, setzte die SS-Kommandantur einen jüdischen Ältestenrat ein, der administrative Aufgaben zu übernehmen hatte und zur Illusion eines freien Lebens in Theresienstadt beitragen sollte, allerdings auch wie in den anderen Ghettos für die Auswahl von Insassen zur Deportation in die großen Vernichtungslager zuständig war. Es entwickelte sich mit der Zeit auch ein reges, sogar von der Lagerleitung unterstütztes Kulturleben, da hunderte hervorragende Wissenschaftler und Künstler im Lager interniert waren. Darunter waren einige sehr prominente Musiker, neben Haas auch Viktor Ullmann, Gideon Klein, Karel Ančerl, Bernhard Kaff, Hans Krása und andere. Die kulturelle Szene überstieg bei weitem diejenige innerhalb von der Bevölkerungszahl vergleichbarer Städte.

 

 

Inhaftierte Kinder führen in Theresienstadt die Kinderoper Brundibar von Hans Krása auf. ©Yad Vashem, Quelle artsandculture.google.com

 

Nachdem die dänische Regierung die Aufklärung über das Schicksal der nach Theresienstadt deportierten dänischen Juden forderte, erlaubte der Leiter des für die Vertreibung und Deportation der jüdischen Bevölkerung zuständigen Eichmannreferats, Adolf Eichmann, Vertretern des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, das Lager im Juni zu 1944 besuchen. Dieser Visite waren monatelang „Verschönerungsmaßnahmen“ vorangegangen, die Theresienstadt zu einem Vorzeigelager machen sollten. Die Kommission inspizierte die neu errichteten Cafés, den ebenfalls erst im Vorfeld eingerichteten „Kinderpavillon“, das Siechenheim und Zentralbad und wohnte einer Aufführung der Kinderoper Brundibár von Hans Krása bei. Gespräche mit Häftlingen unter vier Augen wurden nicht geführt. Das Leid der Bewohner wurde so erfolgreich kaschiert, dass das Rote Kreuz augenscheinlich die Inspektion weiterer Lager im Osten als unnötig ansah.

 

Im Anschluss an diesen Besuch produzierte die NS-Propaganda einen Film über Theresienstadt (Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet), der auch unter dem Titel Der Führer schenkt den Juden eine Stadt bekannt wurde. Dieser versuchte auf vielfache Art und Weise die angeblich guten Lebensverhältnisse der Insassen für ein deutsches und internationales Publikum darzustellen um den sich vermehrenden Gerüchten der planmäßigen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Europas entgegenzuwirken. Gezeigt wird der schematisierte Tagesablauf eines scheinbar „normalen“ Lebens der Häftlinge im Ghetto. Auch hier setzte die SS-Kommandatur das Kulturleben gezielt zu Propagandazwecken ein – gezeigt wird auch ein Konzert des Streichorchesters von Karel Ančerl nach einer Aufführung eines Werkes von Haas. Haas selbst ist auf dem Film zu sehen, wie er sich auf der Bühne beim Publikum für den Applaus bedankt. Der Regisseur und Drehbuchautor Kurt Gerron, die meisten der unfreiwilligen prominenten Mitwirkenden sowie der Kinderdarsteller wurden nach den Dreharbeiten nach Auschwitz deportiert und ermordet. (Der Film kann ausschnittsweise auf Youtube angesehen werden, in unten stehendem Video erscheint Haas bei 12:21 und ist bei 12:30 näher zu sehen.)

 

 

In diese Zeit, das Jahr 1944, fällt die Komposition des letzten uns überlieferten Werkes von Haas: Vier Lieder nach Worten chinesischer Poesie. Dieser Zyklus war ein Geschenk für den Bassisten Karel Berman, der ’43 nach Theresienstadt gekommen war und am 22. 7. 1944 die Uraufführung sang. Die Resonanz war so groß, dass es mindestens 15 Wiederholungen dieses Konzertes gab. Der Zyklus basiert auf Umdichtungen chinesischer Verse Bohumil Mathesius‘, die Haas keinesfalls aus Reiz an einem exotischen Kolorit vertonte, sondern weil er dort Gedichte vorfand, die seinen Empfindungen und Sehnsüchten entsprachen. Die ausgewählten Texte behandeln die Sehnsucht nach der fernen Heimat, Heimkehr und das Wiedersehen mit Angehörigen, und so ist es verständlich, dass die Lieder gerade bei den zuhörenden Häftlingen großen Widerhall erfuhren.

 

Doch was können diese Lieder für die Interpretation der Suita bedeuten? Zunächst einmal zieht sich wieder der St-Wenzel-Choral wie eine idée fixe durch den gesamten Zyklus. Das erste Lied Zaslech Jsem Divoké Husy (Ich vernahm Wildgänse) könnte fast eine direkte Fortsetzung des letzten Satzes der Suita sein, denn ähnlich wie deren Schlussteil entwickelt Haas auch hier aus dem Choral ein sich aufbauendes Ostinato. Allerdings findet es nicht, wie fünf Jahre zuvor, zu einem hoffnungsvollen, kräftigen Schluss, sondern fällt ermüdet in sich zusammen. Auffällig ist auch, dass die die ersten Töne der Gesangsstimme die gleiche Intervallstruktur wie die ersten Noten der Oboe in der Suita aufweisen.

 

 

 

Schließlich nimmt vor allem das dritte Lied Daleko měsíc je domova (Fern ist der Mond der Heimat) den direkten Bezug zur Suita. Auch dieses beginnt mit einem langsamen, schattenhaften Ostinato des Chorals. An äußerst prominenter Stelle zitiert Haas schließlich direkt:

 

 

 

Konnte Pavel Haas in diesem Zyklus endlich Gedanken zu Ende bringen, die in Brünn unvollendet geblieben sind? Sicherlich ist es kein Zufall, dass er sich ausgerechnet bei diesem Werk zurückbesinnt und beweist auch, mit welcher inhaltlichen Wichtigkeit ihn die Suita all die Jahre begleitet hat. Diese zarten Lieder bilden im Rückbezug den Schlüssel zum Verständnis dieses vielschichtigen Werkes, da sie endlich, vielleicht noch stiller und dadurch radikaler, ausdrücken, was er im Innersten empfunden haben muss.

 

Während der letzten Wirren des Zweiten Weltkrieges und aufgrund der sich nach und nach abzeichnenden Niederlage des Dritten Reiches, wurde die Deportation möglichst vieler Insassen in die großen Vernichtungslager angeordnet: Allein im Zeitraum zwischen dem 28. September und dem 28. Oktober ermordete das Nazi-Regime 18.500 Menschen aus Theresienstadt, unter ihnen auch die meisten Künstler innerhalb des Ghettos. Haas wurde am 15. Oktober für den Transport bestimmt, verließ am nächsten Tag das Lager und wurde vermutlich am 18. Oktober in Auschwitz-Birkenau, gemeinsam mit dem Pianisten und Freund Bernhard Kaff und dem Dirigenten Karel Ančerl, ermordet. Einen Großteil seiner in Theresienstadt entstandenen Werke nahm Haas mit in das Vernichtungslager in der Hoffnung, sie so bewahren zu können, weshalb uns heute nur ein Torso seines Schaffens geblieben ist. Die vier Lieder bilden dabei sein letztes künstlerisches Vermächtnis.

 
 

Quellen / weiterführende Literatur

Lubdomír Peduzzi. Pavel Haas. Leben und Werk des Komponisten. Hamburg: von Böckel Verlag 1996

Klaus Döge. Pavel Haas. in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Zweite, neubearbeitete Ausgabe, hrsg. von Ludwig Finscher, Kassel u. a. 1999

Online-Archiv Yad Vashem: http://www.yadvashem.org/de/holocaust/about/ghettos/theresienstadt.html#narrative_info