JC Pez: Ein neues Instrument verlangt neue Musik (1/2)

Die Sÿmphonia von Pez steht exemplarisch für die Epoche von 1680 bis 1710: Sie ist die wohl älteste Solosonate, auf dem die Oboe als Soloinstrument angeben ist – wenn auch ein Arrangement der Violinfassung. In diesen Ursprungsjahren wurde die hautbois aus Versailles zu einem europäischen Phänomen und eroberte sich die Musik ihrer Gegenwart, die heute der Wiederentdeckung harrt. Eine kurze Einführung in unser Repertoire dieser Zeit.

 

Die französische hautbois war mehr als nur eine “domestizierte” Schalmei: Sie verfügte über eine Leichtigkeit und Tonqualität, wie sie nie zuvor von einem Rohrblattinstrument erreicht worden war. Im Sturm eroberte sie die Höfe ganz Europas binnen weniger Jahre: Nachdem Lully 1670 mit Le Bourgeois Gentilhomme die brandneue hautbois am Hof in Versailles eingeführt hatte, wurde sie bereits 1673 in London gespielt, 1677 in Turin und Amsterdam, 1679 in Madrid, 1680 in Celle und Stuttgart, ’81 in Hannover und Berlin, ’82 in München. In den 1690er Jahren löste sie schließlich in der Basilika di San Marco in Venedig den Zink ab und führte damit eine Jahrhunderte alte Tradition zu einem Ende. Die Oboe wurde zu einem europäischen Phänomen: Nachdem sie auf dem gesamten Kontinent etabliert war, verlor sie schnell ihr spezifisch französisches Flair; weder Spielweise noch Instrumentenbau ließen regional gefärbte Charaktere erkennen. Gute Oboisten waren äußerst gefragt, überaus mobil und sammelten in verschiedensten Ländern Spieltechniken und Instrumente neuester Bauart. Noch einhundert Jahre danach, in den 1790er Jahren, studierte Antoine Sallantin, später der erste Professor für Oboe am neuen Pariser Conservatoire, in London beim Deutschen Joh. Chr. Fischer, einem ehemaligen Schüler A. Besozzis aus Turin.

 
 

Das Titelblatt der Ballettkomödie „Le Bourgeois Gentilhomme“, uraufgeführt am 14. Oktober 1670, Edition von 1673. Quelle: wikimedia

Unmittelbar inspirierte dieses neue Instrument auch neue Musik, die sein Potential ausschöpften konnte: Kammermusik für gemischte Besetzungen, Sonaten und Concerti, vor allem aber Obbligati im Zusammenspiel mit einer Singstimme. Agostino Steffani schrieb solche Duette bereits 1687, Johann Sigismund Kusser 1692 und Reinhard Keiser 1697, meist als Teil ihrer Opernwerke – diese Stücke sind wohl die ersten echten Solopartien für Oboe und herrliche Musik, die der Wiederaufführung harrt.
Die ältesten Solosonaten, die den Eingang in unser Standartrepertoire erhalten haben, sind wohl die frühen Sonaten von Händel, Telemann oder Vivaldi aus den 1710er Jahren. Auf der Suche nach einem Werk für meine CD habe ich mich bewusst in eine Grauzone des Repertoires begeben: Die Zeit von 1680 bis 1710, in der noch fast keine Sonaten und vergleichbare Werke dezidiert für Oboe entstanden. Welche Musik wurde also von der “ersten” Generation reisender Oboisten aufgegriffen? Für mich ist dieser nach unten erweiterte Blick auf das Repertoire so reizvoll, weil er einerseits an den Ursprung zurückführt, und mich andererseits, durch den stilistischen Umbruch dieser Zeit, auf der modernen Oboe ganz neue Farben (wieder-)entdecken lässt.

 

Ende des siebzehnten Jahrhunderts war die Auffassung der Musiker eine gänzlich andere als heute. Die Instrumentation war im Gegensatz zur musikalischen Idee eines Stückes zweitrangig; deshalb sprach im Prinzip nichts dagegen, ein Stück auf unterschiedlichen Instrumenten auszuführen, wenn die Integrität des Stückes erhalten blieb. Am offensichtlichsten ist dies im französischen Raum, wo die Oberstimme oft nur mit dessus beziehungsweise pour toutes sortes d’istruments angegeben ist. Deshalb ist es alles andere als eindeutig, welche Stücke ursprünglich für die Oboe gedacht waren, und gleichzeitig ist die Menge an möglichen Repertoire deutlich größer, als zur Zeit praktiziert. Im folgenden habe ich eine Liste zusammengestellt, die natürlich nur einen Bruchteil des Repertoires darstellt, aber exemplarisch verschiedene Gattungen solistischer Oboenmusik in unterschiedlichen Regionen Europas abdeckt.
 
 
 

Detail eines Teppichs der Gobelinwerkstatt „Danse de Nymphes, de la gauche“ hergestellt 1684. Paris, Louvre. Quelle: wikimedia

Ein ganz besonderes Manuskript stammt vom Ludwigsburger Hof, die Sÿmphonia für Oboe und Basso continuo von Johann Christoph Pez (1664 – 1716), wohl aus dem ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts. Melodische Wendungen und Phrasierungen weisen oft in das gerade vergangene 17. Jahrhundert, sodass es sich hierbei um das „stilistisch älteste“ Manuskript einer Sonate handelt, auf dem Oboe als Soloinstrument ausgewiesen ist und das die Zeit überdauert hat. Auch wenn eine andere Quelle beweist, dass das Werk ursprünglich für Violine konzipiert war, zeigt es anschaulich, wie ein Oboist Violinliteratur der Zeit adaptierte und so auf dem Instrument spielbar machte. Dieser besondere Charakter und die Quellenlage des Stückes ließen mich schließlich dafür entscheiden, es in das Programm meiner CD aufzunehmen; im folgenden Artikel werde ich dazu genauer eingehen.
 
 
 

André Danican Philidor (1652 – 1730):
recueil de plusiers belles pieces de simphonie
http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k1036810/f1.image
Bevor original für sie geschriebene Musik erschien, griffen Oboisten auf Zusammenstellungen von airs und Instrumentalstücken aus Opern und königlichen Bällen zurück; neben Sammlungen von Lully steht diese beispielhaft dafür.

 

Marin Marais (1656 – 1728):
Pièces de viole, troisième livre / Pièces en trio
http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b54000088b

http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b9010309b
Die Musik Marais‘ wurde zum Prüfstein ihrer Zeit, nur wenige Kompositionen aus ihrem Umfeld lassen sich an ihr messen. In oben genannten Werken besteht der explizite Bezug zur Oboe, doch prinzipiell lässt sich auch seine frühere Musik gut auf der Oboe umsetzen.

 

François Couperin (1668 – 1733):
La Pucelle et La Steinquerque, später Teile von Les Nations

http://imslp.org/wiki/Les_Nations_(Couperin%2C_Fran%C3%A7ois)
Couperin schreibt in den 1690er Jahren mindestens zwei Trios, La Pucelle und La Steinquerque und gibt sich dabei als anonymer italienischer Komponist heraus. Später verwendet er diese Werke als Sonades der Sammlung Les Nations.

 

Jean-Féry Rébel (1666 – 1747):
Recueil de douze sonates à II et III parties avec la basse chiffrée

http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b9009981n
Rebel, maître de musique der Opéra, schreibt die großartigen douze sonates 1695, veröffentlicht werden sie erst 1712. Noch 1724 schreibt Brossard über diese Stücke: „Elles sont toutes magnifiques …“ Auch wenn Rebel Geiger war, gibt er für die Oberstimme nur dessus an. Von den Solosonaten funktionieren vor allem Nr. 9 (d-moll) und Nr. 11 (B-Dur) auf der Oboe.

 

Arcangelo Corelli (1653 – 1713):
Sonate a violino e violone o cimbalo (op. 5)

http://imslp.org/wiki/12_Violin_Sonatas,_Op.5_(Corelli,_Arcangelo)
Auch wenn Corelli kein originales Solowerk für die Oboe hinterlassen hat, waren seine Sonaten op. 5 in ganz Europa so bekannt und einflussreich, dass es gut vorstellbar ist, dass Oboisten versuchten, sie für ihr Instrument zu adaptieren. Die ersten 6 lassen sich nicht adaptieren, allerdings einige aus der 2. Hälfte der Sammlung. Nr. 10 kann in der Originaltonart gespielt werden, andere in transponierter Form, so Nr. 9 in B-Dur.

 

In Norddeutschland (Hannover, Hamburg) entstehen zahllose obligate Oboensoli mit Sängern, vor allem von Agostino Steffani (1654 – 1728) und Reinhard Keiser (1674 – 1739). Ihre Werke mit Oboe können leicht über den Haynes-Katalog online eingesehen werden: www.haynes-catalog.net . Von Steffani stammt auch eine ganze Kantate für Sopran, Oboe, obligates Fagott und Basso continuo: Spezza amor l’arco, e li strali (http://imslp.org/wiki/Duetti,_Scherzi,_Cantate_%28Steffani,_Agostino%29) .

 

Georg Friedrich Händel (1685 – 1759):
Sonata pour l’hautbois solo

http://haynes-catalog.net/works/show/1195?search_id=-618568408
Händels frühe B-Dur-Sonate entsteht in den 1700er Jahren und wurde für ihn während seines Aufenthaltes in Rom gespielt.

 

Monsieur Barre ? :
Suittes (Concerts) ‚mise en partition par Mr. Barre à Hanover‘

http://tudigit.ulb.tu-darmstadt.de/show/Mus-Ms-1221
Diese exzellente Sammlung französischer Suiten für vierstimmiges Ensembles wurde vermutlich von Ernst Ausgust’s Hautboisten am Hof in Hannover gespielt.

 

Johann Christoph Pez (1664 – 1716):
Sÿmphonia. Hautbois solo.

http://haynes-catalog.net/works/show/2002?search_id=-625179288
Ein ungewöhnlich virtuoses und großangelegtes Werk, Bearbeitung einer Violinfassung. Auch andere Sonaten und Trios von Pez sind entsprechend leicht zu arrangieren.

 

Henry Purcell (1659 – 1695):
oh let me weep (the plaint) from Fairy Queen

http://haynes-catalog.net/works/show/2135?search_id=-629213358
Ein Duo mit Sopran, das auf dem heute verschollenen ursprünglichen Manuskript für Oboe angegeben ist, das Purcell’s melancholischen Stil zu höchster Expressivität führt.

 

James Paisible (1656 – 1721):
The Queen’s Farewell

http://haynes-catalog.net/works/show/1964?search_id=-630328618
Ein Trauermarsch, der für den Tod von Queen Mary am 28. Dezember 1694 geschrieben wurde, für vierstimmiges Ensemble. Paisible war ein in London tätiger französischer Oboist und Blockflötist.

 

Servaes de Konink (1653/54 – 1701):
12 Sonates
http://haynes-catalog.net/works/show/1594?search_id=-631673578
Die 12 Sonaten von Konink wurden 1700 für Flöte, Violine oder Oboe und Continuo veröffentlicht. Einzige überlieferte Quelle ist heute ein Manuskript, das in Wolfenbüttel liegt. Die interessantesten der kurzen Stücke sind Nr. 3 und 8.

 
 

Quellen / weiterführende Literatur
 

Bruce Haynes. The Eloquent Oboe. A History of the Hautbois 1640 – 1760 Oxford: University Press 2001
 

Bruce Haynes. Der hautbois (1630 – 1800) in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Zweite, neubearbeitete Ausgabe, hrsg. von Ludwig Finscher, Kassel u. a. 1999
 

Bruce Haynes, Peter Wuttke. The Haynes Catalog. Bibliography of Oboe Music by Peter Wuttke: http://haynes-catalog.net/