R Schumann: Op 94 – eine heimliche Sonate? (3/3)

Wenn man den Zyklus zum ersten Mal so gesehen hat, wird man ihn nicht mehr anders verstehen können: Schumann bedient sich auf geniale Weise der großen Form der klassischen Sonate, um auf engstem Raum Proportionen und Spannungsverläufe zu verdichten.
 

“ … was man den geheimen Gedanken Schumann’s nennen möchte, nämlich die classischen Formen mit Romantik zu durchdringen oder wenn man will, den romantischen Geist in classische Kreise zu bannen …“
– Franz Liszt 1855 in seinem Artikel „Robert Schumann“ für die Neue Zeitschrift für Musik
 

Dieser Ausspruch von Franz Liszt trifft ganz direkt, wie die Drei Romanzen op. 94 funktionieren: Im Gewand freier Fantasiestücke schreibt Schumann einen Zyklus, in dem nichts dem Zufall überlassen bleibt. Die drei Sätze funktionieren als Ganzes: Ein klarer Spannungsbogen führt den Hörer durch die Musik. Die oberflächliche Idylle trügt und wird an einem entscheidenden Punkt bewusst durchbrochen.
 

In seiner Dresdner Zeit beginnt Schumann, wie er in seinem Tagebuch notiert, “alles im Kopf zu erfinden und auszuarbeiten” und schreibt auf diese Art zunächst Klavierwerke im strengen Satz. Dieser zurückziehende, verdichtende Ansatz schlägt sich ganz klar auch im Opus 94 nieder: Hier bedient er sich der vielleicht etabliertesten Form der damaligen Musiktradition, der Sonate. Im Lehrbuch folgt hier auf den ersten Satz in Sonatenhauptsatzform ein langsamer Satz in Liedform und schließlich ein abschließendes Rondo. Eine kurze Formanalyse soll zeigen, wie meisterhaft Schumann dieses Prinzip auf vermeintlich freie Fantasiestücke überträgt.
 

Romanze I – Sonatenhauptsatzform
 

In den ersten zehn Takten wird der musikalische Gedanke vorgestellt, der die Grundlage für die gesamte Romanze bildet. Dieser Abschnitt steht für eine “Exposition”, daher vermutlich auch der Doppelstrich am Ende von Takt 10. Ohne ein zweites Thema vorzustellen folgt direkt ein durchführungsartiger Abschnitt (T. 11 – 59), in dem das Motiv verarbeitet wird und schließlich auch nach C-Dur, in die Parallele der Grundtonart, moduliert (T. 33). Vielleicht ersetzt diese C-Dur-Passage auch das zweite Thema, das in dieser Tonart hätte stehen müssen? Eine kurze Scherzando-Überleitung führt im Anschluss fast unmerklich zur Reprise (T. 56), die leicht verändert die Exposition wiederholt und schließlich in eine Coda (T. 67), die auf zwei Orgelpunkten (kleines A ab 67, dann großes A ab 80) das Stück ausklingen lässt.
 

Romanze II – Liedform
 

Die zweite Romanze ist in einer typischen Liedform aufgebaut, wie sie klarer nicht sein könnte: Eine Dreiteilige Liedform mit anschließender kurzer Coda. Betrachtet man die drei Romanzen als Ganzes, steht der fis-moll-Mittelteil an ganz besonderer Stelle, nämlich im Zentrum der gesamten Komposition. Gleichzeitig fällt er sehr aus dem Rahmen: Kein Abschnitt der Romanzen ist so aufgeregt, man könnte fast sagen chaotisch geschrieben wie diese 18 Takte, und steht damit im starken Kontrast zum vorherigen A-Dur-Idyll. Vielleicht ein Hinweis, welche innere Zerrissenheit unter der friedlichen Oberfläche schwelt?
 

Romanze III – Bogenrondo
 

Die letzte Romanze steht in einer Rondoform, ähnlich einem klassischen Bogenrondo mit immer wiederkehrendem Ritornell (T. 1-4). Zwei gleiche Teile umrahmen einen kontrastierenden Mittelteil. Am Schluss steht eine Coda, die sich nicht auf die letzte Romanze, sondern den gesamten Zyklus bezieht: Ein Achtelmotiv aus der zweiten Romanze kehrt wieder (T. 72). Somit schließt Schumann, zurückblickend auf das Vergangene, das Ganze, meisterhaft den Kreis.
 

Fast unmerklich verwendet er also eine traditionelle große Form, um eine Miniatur zu erschaffen, in der sich ein ganzer Kosmos verbirgt. Nie verliert er den Blick auf das Ganze, sämtliche Proportionen und Spannungsverläufe sind fein austariert und auf engstem Raum verdichtet. Wenn man den Zyklus zum ersten Mal so gesehen hat, wird man ihn nicht mehr anders sehen können.