Toshio Hosokawa: Diesseits und Jenseits

„Ein Ritual soll Claudia die Seele ihres toten Kindes sehen lassen, denn sie kann ihn nicht freigeben. Doch das Bild zerrinnt in ihren Armen. „Lasst uns nach Hause gehen, ein jeder zu sich nach Hause“, sagt sie. Für Toshio Hosokawa spiegelt sich die Natur in hörbaren symbolischen Formen. So hat jeder Ton, jede Stille eine spirituelle Evidenz.“ (staatsoper-hamburg.de über Stilles Meer)
 

Zur Wiederaufnahme seiner Oper Stilles Meer von 2016 an der Staatsoper Hamburg hatte ich im Februar die Gelegenheit, Toshio Hosokawa in der Hansestadt zu treffen um mit ihm über Spell Song, sein Solostück für Oboe, zu sprechen. Wie die 90-minütige Oper über die Katastrophe von Fukushima setzt sich auch Spell Song mit einem der zentralen Themen in Hosokawas Schaffen auseinander: Spiritualität und Schamanismus. Hosokawa sieht in der Konzertsituation eines Musikers Parallelen zu einem spirituellen Ritual: Er betritt die Bühne, schafft eine Verbindung zu einer anderen, mystischen Welt und tritt wieder ab. Um diese Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits verschwimmen zu lassen, benötigt man einen „Zaubergesang“, den Spell Song, der durch die universelle musikalische Sprache Tore öffnet. Auch seine Opern erzählen von zentralen Figuren, die aus dem Jenseits kommen, von dort berichten und wieder verschwinden, und so erzählt Spell Song ein solches Ereignis auf denkbar konzentriertestem Raum; ein Musiktheater in knapp sieben Minuten.
 
Geboren 1955 in Hiroshima, kam Hosokawa als junger Mann in den siebizger Jahren nach Berlin, um bei Isang Yun Hochschule der Künste zu studieren. Erst im fernen Europa erkannte er das Gewicht der japanischen Musiktradition für seine eigene künstlerische Identität. Später setzte er seine Studien bei Klaus Huber in Freiburg fort, lernte dort auch Heinz Holliger kennen, der ein wichtiger Mentor wurde. Hosokawa ist ein Brückenbauer zwischen Ost und West, der in sein Schaffen für westliches Instrumentarium stets japanische Kunstformen einfließen lässt.
 
So ist auch Spell Song von tradtitioneller japanischer Musik geprägt: Vor allem der Klang der Shakuhachi, der japanischen Bambusflöte, beeinflusst seine Schreibart für Oboe entscheidend. Besondere Spieltechniken verwendet er nie zum Selbstzweck, sondern stets in Einbindung in das ästhetische Ganze. Für uns „westliche“ Interpreten wird dies am klarsten verständlich, wenn man sich originale Aufnahmen dieses Instrumentes anhört – dafür empfiehl mir Hosokawa den Shakuhachi-Meister Tadashi Tajima:
 
 

 
 

Die zweite japanische Kunstform, die entscheidend in die Komposition einfließt, ist Kalligraphie. Wie auch ein musikalischer Vortrag lebt die Kalligraphie entscheidend von einem einmaligen Moment, in dem sie geschaffen wird. Hosokawa gestaltet Melodik und Struktur seiner Phrasen wie mit dem Pinsel geführt: Jeder der Abschnitte des Stücks (1-2, 2-3, 3-4, 4-5, 5-6, 6 bis Schluss) , die jeweils um einen bestimmten Zentralton kreisen, kann als abgeschlossene kalligraphische Geste gesehen werden. Einige zentrale Aspekte dieser Kunstform, wie (Pinsel-)Druck, Körperhaltung oder Bewegung sind zwar nicht eindeutig aus der fertigen Zeichnung herauszulesen, bilden aber dennoch einen gewichtigen Teil der künstlerischen Aussage. Dieselben Themen sind auch, wenngleich unsichtbar, maßgeblich für den Interpreten bei der Performance dieser Musik.
 
 

Zwei Kalligraphien aus Toshio Hosokawas privater Sammlung: „Haiku von Basho“ und „Herz“ von Masanori Taki.