Duduk: Trauma und Traum

“Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“ Erst im Juni 2016 ordnet der Deutsche Bundestag die ab 1915 im damaligen osmanischen Reich an den Armeniern begangenen Massaker als Völkermord ein – gute hundert Jahre nach den Ereignissen. Erkoreka verlegt die Spannung traditioneller armenischer Duduk-Musik zwischen Melodie und Bass in ein einziges Soloinstrument, um die emotionale Zerrissenheit und den Überlebenswillen der Menschen zum Ausdruck zu bringen.
 

Erst im Juni 2016 ordnet der Deutsche Bundestag die ab 1915 im damaligen osmanischen Reich an den Armeniern begangenen Massaker als Völkermord ein – gute hundert Jahre nach den Ereignissen, und auch erst dreißig Jahre, nachdem das Europaparlament den Genozid benannt hatte. Die deutsch-türkischen Beziehungen stellt die Armenien-Resolution erheblich auf die Probe, denn bis heute ist die offizielle Lesart der türkischen Regierung eine andere: Vertreibung, Verfolgung und Ermordung der Armenier habe keine Planmäßigkeit zugrunde gelegen und auch das Massensterben während der Umsiedlungstrecks und die verübten Massaker seien von der osmanischen Regierung nicht gewollt gewesen.
 

Der Völkermord an den Armeniern war einer der ersten systematischen Genozide im 20. Jahrhundert. 1914 tritt das osmanische Reich, geführt von den nationalistischen Jungtürken, an der Seite des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns in den Ersten Weltkrieg ein. Nach schweren militärischen Niederlagen im ersten Kriegsjahr bezichtigen die türkischen Nationalisten schnell die christlichen Minderheiten des Landes, allen voran die Armenier, der Unterstützung der Kriegsgegner. Nachdem armenische Rebellen im April 1915 mit Unterstützung russischer Streitkräfte die Kontrolle über die Stadt Van erlangen, wird dies für die Regierungspropaganda zum Anlass, die Armenier unter Generalverdacht zu stellen und des Hochverrats zu bezichtigen.

 
 

Detail des Chatschkar von Gyumri. Ein tradioneller armenischer Gedächtsnisstein. Quelle: wikimedia.de

 

In dieser Zeit wird aus der Vorstellung einer einheitlichen türkischen Bevölkerung der konkrete Plan einer organisierten Vernichtung ganzer Bevölkerungsteile. Die Aktion beginnt mit der Verhaftung der armenischen Elite in Konstantinopel: Im April 1915 werden in Razzien hunderte Intelektuelle, Geistliche, Ärzte, Verleger, Journalisten, Anwälte oder Lehrer verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. Kurz darauf begannen die Massendeportationen der gesamten armenischen Bevölkerung aus ihren angestammten Wohnsitzen in die syrische und mesopotamische Wüste. Bei wochenlangen Märschen und Massakern der Zivilbevölkerung kamen nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 300.000 und 1,5 Millionen Menschen zu Tode.

 

Die Duduk, die armenische Kurzoboe, ist eines der wichtigsten Instrumente der armenischen Musiktradition. Sie wird stets von einem tiefen Basston begleitet, über dem sich Melodien und Melismen entfalten. In Duduk I-b verlegt Gabriel diese Spannung zwischen Grundton und Melodie auf ein einziges Soloinstrument: Nachdem in den ersten Minuten des Stückes die beiden Gegenpole fast meditativ eingeführt werden, beginnen sie sich auf unterschiedlichste Art zu verschränken, wobei immer wieder die Illusion einer Zweistimmigkeit aufgebaut wird. Am Schluss des Stückes versinken sie gemeinsam in der Tiefe.

 
 

 
 

Erkoreka selbst bezieht seine Musik nicht direkt mit diesen Ereignissen, sondern lasst Raum für Interpretation. Im Vorwort schreibt er: “At the same time, this polarization between drone and melody, carried to the extremes, wills to experiment with the material in a way to reflect an equally extreme emotional background: The trauma stemming from a yearning for a lost homeland along with a sense of survival against all odds which characterize the Armenian psyche.”

 

Die Ereignisse, von den Armeniern selbst “Aghet” (“Katastrophe”) gennant, nehmen so manches Narrativ des knapp dreißig Jahre später beginnenden Holocaust vorweg. Gezielt wurde gegen eine kulturelle Elite des Landes vorgegangen: 1914 erschienen in Istanbul noch 9 Zeitungen auf Armenisch und 13 auf Türkisch, obwohl nur 10% der Bevölkerung Armenier waren. Armenier hatten das moderne Theater und die Oper im Reich etabliert und verfassten auch die ersten osmanischen Romane. Dennoch war von einer “Verseuchung” der Gesellschaft die Rede, der Gouverneur der Provinz Diyarbakır, ein Mediziner, nennt die Armenier eine Menge „schädlicher Mikroben, die den Körper des Vaterlandes befallen“ hätten. Und schließlich soll Adolf Hitler am 22. August 1939 in seiner Geheimrede vor den Oberbefehlshabern aller drei Waffengattungen skandiert haben: „Dschingis Chan hat Millionen Frauen und Kinder in den Tod gejagt […] Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“