G Silvestrini: Traumvisionen

Die Six Études des französischen Komponisten Gilles Silvestrini sind vermutlich das am meisten gespielte Stück für Oboe, das in den letzten dreißig Jahren komponiert wurde – das ist auch keine Überraschung, denn erweitert Grenzen, indem es an den Interpreten vollkommen neue technische und musikalische Ansprüche stellt. Ich habe den Komponisten in Paris getroffen, um seinen kompositorischen Ansatz zu verstehen und über seine Musik zu sprechen, vor allem über seine Études Pittoresques von 2013.
 

Alii mundi wählte ich für den Beginn meines Albums, da es mein inhaltliches Konzept zur Spannung zwischen Heimat und Fremde in wenigen Minuten zusammenfasst. Die Musik, genau wie der Titel, dient als Metapher: Alii mundi (Andere Welten) bezieht sich auf mittelalterliche europäische Weltkarten, die mappae mundi, wie dem 1375 entstandenen Katalanischen Weltatlas von Abraham Cresques. Dieser Atlas war der erste, der die Reiseberichte Marco Polos nutzte, um den damals äußersten Randes der Europa bekannten Welt, den Fernen Osten, darzustellen. Es ist kein Zufall, das ein Detail dieser Karte als Titelbild der Études Pittoresques ausgewählt wurde: Eine Karawane, die auf der Seidenstraße gen Osten zieht.
 
 

Eine Karawane reist auf der Seidenstraße gen Osten. Abraham Cresques: Katalanischer Atlas (1375, Ausschnitt). Quelle: wikimedia commons

 
Die Musik beschreibt eine fesselnde Szene aus dem fernen Orient, einem “Orient der Träume”, wie der Komponist es persönlich beschreibt. Indem es eine Improvisation auf einem exotischen Blasinstrument zeichnet, beschwört das Stück die Atmosphäre der weiten, einsamen Steppe. Der Kontrast zwischen statischen Fermaten und sehr flüssigen, aufgeregten Passagen schafft die Spannung der Musik, die schließlich zu einem Danse Infernale führt. So schnell wie er erscheint, löst sich dieser Höllentanz auch wieder ins Nichts auf und kehrt zur urspünglichen Stimmung zurück. Silvestrini verwendet fast ausschließlich besondere Griffkombinationen, um die Oboe wie ein exotisches, “wildes” Instrument klingen zu lassen. Die ausnotierten Tonhöhen und Lautstärken resultieren aus diesen Griffen und nicht andersherum; sie werden sicherlich auf jedem Instrument unterschiedlich klingen, was aber kein Problem ist, wenn sie komfortabel zu spielen sind und in die allgemeine Farbe und Idee des Stückes passen. Nichtsdestotrotz sind Tempi, Rubati und Fermaten sehr bewusst gesetzt, um jeder Phrase einen eigenen Charakter zu geben und einen Spannungsbogen über das gesamte Stück zu spannen.
 
 
Gilles Silvestrini – Alii Mundi (Ausschnitt)


 
Tatsächlich verdienen die Six Études ihre Popularität wegen der frischen Herangehensweise an das Instrument und die spielfreudige Virtuosität – für jeden Oboisten sind sie die Anstrengung wert, einen Schritt vorwärts zu machen. Nichtsdestotrotz gibt es noch viel zu entdecken. Silvestrini schrieb im Anschluss eine verschiedenste Sololiteratur für Oboe, von der das meiste nur sehr wenig bekannt ist, obwohl er hier durch eine farbenreichere musikalische Sprache zu einem persönlicheren Stil gelangt. In den letzten Jahren veröffentlichte er drei weitere Bände Konzertetüden, die Études Russes (2012), die Études Pittoresques (2013) und vor wenigen Monaten die Études Romantiques (2018), das zwöflminütige Fantasiestück Horae Volubiles (2006) und Les Lusiades (2014), das formelle Elemente einer Symphonie auf ein Solostück überträgt.
 
Vor allem die Études Pittoresques weckten mein Interesse, da sie aus einer aufregenden Mischung verschiedener Inspirationen schöpfen: Silvestrini verwendet unerschiedliche musikalische Stile, andere Kunstformen sowie instrumentale Experimente, um jedem Stück seine eigene Farbe zu geben. Die ersten beiden Etüden sind von zwei fiktionalen Szenen einer exotischen, traumartigen Vision Zentralasiens inspiriert: Auf Nr. 1 Gengis Khan, das die Brutalität und Erbarmungslosigkeit kriegerischer Stämme beschreibt, folgt Nr. 2 Alii mundi, eine pastorale Idylle mit improvisatorischem Charakter. Die mittleren beiden Stücke aus der Literatur, nach zwei Märchen von Hans-Christian Andersen. Nr. 3 … mais une sirène n’as pas des larmes ( … aber eine Meerjungfrau hat keine Tränen …) nach Motiven aus der Kleinen Meerjungfrau, beginnt mit harmonischen, wasserartigen Figurationen, die zu einer komplexen, unruhigen Passage führen, die die inneren Konflikte der Protagonistin beschreiben, die schließlich zu einem tragischen Ende führen. Nr. 4 … elle savait aussi chanter d’une voix douce et gentille … (… sie konnte auch mit einer süßen, niedlichen Stimme singen …), nach Däumelinchen, wieder in starkem Kontrast zum vorhergehenden Stück, imitiert den kindlichen, naiven Gesang eines winzigen Mädchens, das auf einem Seerosenblatt über einen Teich driftet, der aus ihrer Perspektive die Dimensionen eines Ozeans hat. Die letzten beiden Stücke, Nr. 5 Hommage à Sir Elgar und Nr. 6 Hommage à Britten, verneigen sich vor zwei großen englischen Komponisten in einer frei-assozietiven Weise, ohne sie direkt zu zitieren. Dies bildet auch eine Brücke zur Widmungsträgerin Melanie Ragge, Oboistin und Professorin an der Royal Academy of Music in London.