F Couperin: ein (europäisches) Geständnis

Die Polarität zwischen Frankreich und Italien zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Barockzeit. François Couperin war einer der wenigen Künstler, die es wagten, diese schier unüberbrückbaren Grenzen zu überschreiten, auch wenn er zumal dafür seine wahre Identität verschleiern musste.


Heute präsentiert der tradierte Konzertbetrieb die Musik meistens als eine allgemeingültige, internationale Kunst, die überall auf der Welt in gleicher Weise verstanden werden sollte – eine Vorstellung, die dem Musikverständnis im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts krass entgegensteht. Hier stand ein Streben der Nationen nach kultureller Eigenständigkeit im Vordergrund, das Stile entstehen lies, die sich klar gegeneinander profilierten.


Die größten Rivalen waren zu dieser Zeit nicht nur politisch, sondern vor allem kulturell Frankreich und Italien, und das musste sich natürlich auch in der Kunst, der Musik widerspiegeln. Der Gegensatz der beiden Pole galt als unüberbrückbar und ging sogar so weit, dass die Musiker der jeweiligen Nationen sich weigerten, Musik der anderen „Seite“ zu spielen – oft hatten sie füreinander allenfalls Verachtung übrig. Selbst Komponisten anderer Länder, Englands oder Deutschlands etwa, mussten sich zunächst für eine Schreibart entscheiden, bevor im 18. Jahrhundert der sogenannte „gemischte Geschmack“ entstand.




François Couperin, anonymes Porträt. (Quelle: wikimedia commons)


Diese Polarität zwischen Frankreich und Italien zieht sich wie ein roter Faden durch die Kulturgeschichte des Barocks – wird aber heute für uns, dreihundert Jahre später, beim Hören dieser Musik nicht direkt verständlich. Allerdings liegt dies wohl an einem oft nivellierenden Musizieren und vor allem einer Programmgestaltung, die die Musik häufig nur als Ornament begreift und dadurch nur an der Oberfläche kratzt. Denn bereits die Partituren und Quellen sprechen eine unmissverständliche Sprache: In der französischen Musik herrschen klare, knappe Formen vor, bei denen jedes Detail der Ausführung strengstens festgelegt wurde, von Bogenstrichen bis zu einem komplizierten, genau einzuhaltenden Verzierungskatalog. Das feine Hören kleinster Details und deren „Eleganz“ wird zur wesentlichen Priorität. Das Gegenteil belebt die italienische Musik: Theatralik, überbordende Lebhaftigkeit und freie Improvisation sind ihre Grundelemente, die auf die Franzosen zwangsläufig vulgär und niveaulos gewirkt haben mussten!


Trotz solcher krassen Gegensätze gab es nicht wenige Anläufe, die beiden Stile zu verbinden. Louis XIV. machte einige Versuche, italienische Künstler nach Frankreich zu holen; so hatte er Bernini, einen der bedeutendsten italienischen Bildhauer und Architekten der Zeit, berufen, um Pläne zum Neubau des Louvre anzufertigen, und auch den Komponisten Cavalli beauftragt, für seine Hochzeit 1660 eine Oper zu komponieren. Beiden Projekten war kein Erfolg beschieden (obwohl der Auftritts Louis als Sonne bei der Aufführung Cavallis Ercole Armante als denkwürdiges Ereignis in die Geschichte eingehen sollte). Ein echter Grenzgänger war François Couperin (1668 – 1733), der für die späten Jahre Louis XIV. am Hof von Versailles Kammermusik und sakrale Musik komponierte. Zeit seines Lebens Bewunderer seiner italienischen Kollegen, machte er erst am Ende seiner Karriere im Vorwort zu Les Nations (1726) als gestandener Komponist ein erstaunliches Geständnis. Die erste Sonate dieser Sammlung hatte er nämlich bereits über 30 Jahre zuvor als junger Mann komponiert – und nur unter falschem Namen veröffentlicht. Sie stand so nahe an Corelli, dass er sich aus Schutz für ein italienisches Pseudonym entschied:


Das Vorwort zu Les Nations (1726) (Quelle: Bibliothèque National de France)



„Ein Teil dieser Trios ist bereits vor einigen Jahren komponiert worden […] Die erste Sonate dieser Sammlung ist auch die erste, die ich geschrieben habe; und die auch in Frankreich geschrieben wurde. Die Geschichte selbst ist außergewöhnlich.
Entzückt von denen [den Sonaten] des Signor Corelli, dessen Werke ich Zeit meines Lebens liebte, und den französischen Werken des Monsieur de Lulli, wagte ich, eine zu schreiben, die ich in einem Konzert aufführen lies, wo ich auch die Corellis gehört hatte; der erbitterten Kritik der Franzosen für fremde Neuheiten vor allem anderen durchaus bewusst; da ich mir selbst noch nicht sicher war, erwies ich mir durch einen kleinen Trick einen durchaus guten Gefallen. Ich tat so, als hätte mir ein Verwandter, tatsächlich vom König Sardiniens, eine Sonate geschickt – eines neuen italienisches Autors. Ich verdrehte die Buchstaben meines Namens so, dass sie einen italienischen Namen ergaben und setzte ihn an dessen Stelle. Die Sonate wurde mit Begeisterung verschlungen, und ich konnte mir die Verteidigung ersparen. Indessen spornte es mich an. Ich schrieb noch weitere, und mein italienisierter Name lockte mich, unter der Maske großen Applauses. Glücklicherweise erhielten meine Sonaten genug Zustimmung, dass mich ihre Zweideutigkeit nicht erröten lässt.“

Il y à quelques Années déja, qu’une Partie de ces Trios a êté Composée […] La Premiere Sonade de ce Recüeil fut aucy la premiere que je composay; et qui, ait êté composée en France. L’Histoire même en est singuliere.
Charmé de celles du Signor Corelli, dont j’aimeray Les oeuvres tant que je vivray, Ainsy que Les Ouvrages françois de Monsieur de Lulli, j’hazarday d’en composer une, que je fis éxécuter dans le Concert ou j’avois entendu celles de Corelli; connoissant L’âpreté des françois pour Les Nouveautés-étrangeres, sur toutes-choses; et me Déffiant de moy-même, je me rendis, par un petit mensonge-officieux, un très bon service. Je feignis, qu’un parent que j’ay, effectivement auprés du Roy de Sardaigne, m’avoit envoyé une Sonade – d’un nouvel Auteur italien: Je Rangeai les Lettres de mon nom, de façon que cela forma un nom italien que je mis à la place. La Sonade fut devorée avec empressement; et j’en tairay L’apologie. Cela cependant m’encourageà. J’en fis d’autres; et mon nom italiénisé m’attira, sous le masque de grands applaudissemens. Mes Sonades heureusement, prirent assés de faveur pour que L’équivoque ne m’ait point fait rougir.)



– Francois Couperin in seinem Vorwort zu Les Nations (1726)


Als gestandener Komponist musste er wohl drei Jahrzehnte später nicht mehr die Folgen fürchten, diese Anekdote zu veröffentlichen. Mehr noch: Der zweite Band seiner Concerts Royaux, die er für die Sonntagskonzerte in Versailles komponierte, tragen den Titel Les Goûts-Réunis – die vermischten Geschmäcker. Die Idee, die beiden gegensätzlichen Stile zu vereinen, schien Couperin in seinen letzten Lebensjahren fasziniert zu haben; im Vorwort zu Les Goûts-Réunis schreibt er 1724:



Das Vorwort zu Les Goûts-Réunis ou Nouveaux Concerts (1724)



„Der Italienische und Französische Geschmack haben die Musikwelt (in Frankreich) lange gespalten; ich für meinen Teil habe stets die Dinge geschätzt, die es verdienten, gleich welcher Autor oder welche Nation; und die ersten italienischen Sonaten, die vor über dreißig Jahren in Paris erschienen und mich ermutigten, auch solche zu schreiben, waren meiner Meinung nach nicht im Nachteil, weder zu den Werken des Monsieur de Lulli noch zu denen meiner Vorgänger, die nach wie mehr sehr zu schätzen als nachzuahmen sind. So wandere ich, durch den Anspruch, den mir meine Neutralität verleiht, stets unter den glücklichen Umständen, die mich bis heute geleitet haben.“


Le goût Italien et le goût François, ont partagé depuis longtemps (en France) la République de la Musique; à mon égard, J’ay toûjours estimé les choses qui le meritoient; sans acception d’auteurs, ny de Nation; et les premiéres Sonades Italiénes qui parurent à Paris il y a plus de trente années, et qui m’encouragerent à en composer ensuite, ne firent aucun tort dans mon esprit, ny aux ouvrages de Monsieur de Lulli, ni à ceux de mes ancêtres; qui seront toûjours plus admirables, qu’imitables. Ainsi par un droit que me donne ma neutralité, je vogue toûjours sous les hereux auspices qui m’ont guidé jusqu’à présent.



– Francois Couperin in seinem Vorwort zu Les Goûts-Réunis ou Nouveaux Concerts (1724)



Am Ende möchte ich noch auf ein ganz erstaunliches Werk hinweisen, das Couperin im Anschluss an Les Goûts-Réunis veröffentlichte: L’Apothéose composé à la mémoire de l’incomparable Monsieur de Lully, ein Instrumentalstück mit klar programmatischem Inhalt. Couperin setzt eine imaginäre Begegnung von Lully und Corelli, den jeweils wichtigsten Vertretern ihrer jeweiligen Stile, auf dem Parnass, Berg des Apollon und deshalb Inbegriff der Kunst, in Musik um. In dreizehn Sätzen stellt er die beiden Charaktere und ihre jeweiligen Stile mit großem Einfallsreichtum, zuweilen auch Humor vor und bringt sie schließlich zusammen. Dabei bleibt er stets sehr klar, welcher musikalische Akteur gerade spricht: „Lully“ liest stets im französischen Violinschlüssel (G-Schlüssel auf der ersten Linie), „Corelli“ im heute gebräuchlichen G-Schlüssel auf der zweiten Notenlinie. Auch Tempobezeichnungen sind entsprechend auf Französisch und/oder Italienisch gehalten.



Aus L’Apothéose de Lully: „Apollon überzeugt Lully und Corelli, dass die Vereinigung der Französischen und Italienischen Stile zur Perfektion der Musik führen muss“, Notation in unterschiedlichen Schlüsseln und Verzierungssymbolen. (Quelle: Bibliothèque National de France)

Schließlich „überzeugt Apollon Lully und Corelli, dass die Vereinigung der französischen und italienischen Stile die Perfektion in der Musik herbeiführen muss“ (nichts geringeres!). Daraufhin lässt er Lully und Corelli ein imaginäres Duett, eine air, spielen:


Aus L’Apothéose de Lully: Das imaginäre Duett von Lully und Corelli (Quelle: Bibliothèque National de France)

Lully beginnt mit einem kurzen fugenartigen Motiv, das Corelli respektvoll aufgreift. Bei Lully entwickelt es sich zu einer eleganten Melodie, gespickt mit coulades und anderen typisch französischen Verzierungen. Corelli hingegen entwickelt eine eher rhythmische Begleitstimme aus Arpeggien, fast ohne dabei Verzierungen anzugeben. In der zweiten air tauschen die beiden Meister die Rollen, und hier notiert Couperin für Corelli sogar andere (italienische) Verzierungssymbole als zuvor bei Lully. Das Stück schließt daraufhin mit der Triosonate Le Paix de Parnasse (der Frieden vom Parnass), die die beiden Persönlichkeiten zu einer Einheit zusammenbringt.

 

 

Quellen / weiterführende Literatur
 
David Tunley. François Couperin and ‚The Perfection of Music‘. Farnham: Ashgate 2004
 
Nikolaus Harnoncourt. Der italienische und der französische Stil. in: Musik als Klangrede., 8. Auflage. Kassel: Bärenreiter 2016
 
François Couperin. Les goûts-réunis, ou Nouveaux concerts. Paris: Boyvin 1724 (Bibliothèque National de France)
 
François Couperin. Concert instrumental sous le titre d’Apothéose composé à la mémoire immortelle de l’incomparable Monsieur de Lully. Paris: Boyvin 1725 (Bibliothèque National de France)
 
François Couperin. Les Nations. Paris: Boyvin 1726 (Bibliothèque National de France)